Pressespiegel2014das tor, November 2014

Der Bizeps und andere Körperteile

Das Tor, November 2014

Karnevalswagenbauer Jacques Tilly erläuterte die Geschichte der Narretei und gab einen Einblick in seine Arbeit - Durch ihn kommt der Düsseldorfer Rosenmontagszug weltweit auf die Titelseiten

Je wichtiger ein Politiker oder eine Politikerin sind oder sich geben, desto lieber zeigt Jacques Tilly sie nackt. „Des Kaisers neue Kleider”, so heißt das antiautoritäre Märchen von Hans Christian Andersen mit der Pointe, die ein Kind ausruft: „Er hat ja gar nichts an!”. Der Düsseldorfer Rosenmontagszug­wagenbauer Tilly greift das auf, er huldigt allerlei Majestäten immer wieder hinterlistig lustig gern mit viel rosa Farbe, die auf einen riesigen Pappmaché-Korpus gepinselt wird. Das ist Narrenfreiheit, das ist Karneval, das rollt im „Zoch” mit und macht Schlagzeilen.

Die Weltgeschichte der Narretei erläuterte Tilly den Düsseldorfer Jonges in einem Vortrag am 16. September und füllte den Rahmen der sozialpsychologischen Theorie alsbald sehr witzig mit Bildern und Beispielen des eigenen Schaffens. Karneval sei mit der katholischen Kirche „blutsverwandt”, hat der frühere Kölner Kardinal Meisner mal zu Tilly gesagt, doch dieser hat da seine Zweifel, zumal er zum Thema Abtreibung den Kirchenfürsten mal mit einem Zündholz am Scheiterhaufen einer Hexenverbrennung zeigte. Da war Meisner sicher nicht amüsiert. Tilly erntete „körbeweise” Protestbriefe.

Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl indessen ließ 1994 ganz humorlos seinen Rechtsanwalt eine einstweilige Verfügung gegen Tilly erwirken mit dem Verbot, ein gewisses Detail zu zeigen. Unter einem gewaltigen Bauch baumelte ein winziges Etwas, das Thema des juristischen Einspruchs war. „Die Proportionen stimmten”, sagte Tilly nun zum Vergnügen der Jonges. Aber um einen Rechtsstreit zu vermeiden, stellte er eine Topfpflanze zwischen Kohls Beine. Nur ist das Feigenblatt leider im Verlaufe des Rosenmontagszuges umgekippt...

Auch Kanzler Gerhard Schröder – ein Exhibitionist, der mit weit geöffnetem Mantel die Staatspleite verkündete – zeigte in Tillys Karikatur alles. Das war 2004. Da regte sich kaum einer mehr auf. Nachdem Kanzlerin Angela Merkel 2009 als „kapitulierende Wölfin” an sechs nackten Brüsten die durstigen Staaten des Euro-Paktes säugte, wurde Tilly sogar nach Berlin eingeladen und durfte ihr mal die Hand schütteln.

1999 unterlag Oberbürgermeisterin Marlies Smeets in einer Stichwahl knapp dem Herausforderer Joachim Erwin. Tilly zeigte sie in einem Entwurf, den Begriff „Stichwahl” wörtlich nehmend, erdolcht am Boden liegend, worauf Smeets sich beschwerte, die Darstellung sei frauenfeindlich. Tilly: „Überhaupt nicht, denn hätte Erwin verloren, hätte ich ihn so gezeigt.” Der Wagen wurde nicht gebaut, aber das CC (Comitee Düsseldorfer Carneval) beschloss, keine Entwürfe mehr vorab öffentlich vorzustellen. Die politischen Wagen bleiben geheim, bis der närrische Lindwurm tatsächlich loszieht.

Früher haben Zeitungen schon im Vorfeld Skandale gewittert (oder selbst inszeniert und Meinung gemacht). „Geschmacklos” hieß es oft. Die Wahrnehmung hat sich geändert. „Toll und frech” lauten nun die Bewertungen. So sieht auch der allergrößte Teil des Publikums heute den Zug.

Einmal hat so eine rollende Karikatur aus Tillys Werkstatt tatsächlich konkret etwas bewirkt. Als 2009 der damalige NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers einen Landeszuschuss für die Obdachlosenhilfe des Cellisten Thomas Beckmann strich, zeigte Tilly im Rosenmontagszug den Landesvater als Skinhead, der ein Cello zertrümmert. Rüttgers lenkte ein, der Zuschuss wurde gewährt.

Seit 1983 baut Tilly mit seinem Team – „alles ist Mannschaftssport”, sagt er – Wagen für den Düsseldorfer Rosenmontagszug. Aus dem Atelier, besser gesagt Halle, kommen aber auch Großplastiken für Theater und Messen, für Events aller Art. Er baut auch die Prinzen- und Prunkwagen und kann sich dafür mehr Zeit lassen. Die heißen Kisten aber, die dann als brandaktuelle politische Kommentare auf Titelseiten der Zeitungen weltweit und in Nachrichtensendungen erscheinen, sind für ihn der größte Spaß – und auch der größte Stress. Manchmal wird noch drei Tage vor Rosenmontag ein halbfertiger Wagen „in die Tonne geklatscht” und ein neuer gebaut, weil sich das Thema geändert hat oder ein neues wichtiger wird. „Es lohnt sich nicht, früher mit dem Bau zu beginnen.” Ideen hält Tilly in einem Skizzenbuch fest, doch wie wird aus einer Unmenge von Entwürfen der große Wurf? „Das ist so mühsam wie Goldwaschen.”

« Ein Menschheitsfest mit Spott über die Machtverhältnisse

Denn das Bild muss auf den ersten Blick verständlich sein, ohne viele Worte: zugespitzt, übertrieben, knallig. Wladimir Putin, ein Beispiel von 2014, lässt seinen Bizeps schwellen, der Muskel nimmt die Form einer Bombe an, daraufsteht: „Krim”. Tilly: „Das wird weltweit verstanden.” Fotos vom Düsseldorfer Rosenmontagszug kommen auf rund 70 Titelseiten von Zeitungen vor – und zwar nicht nur unter dem Motto Brauchtum, sondern als Kommentar zur Politik.

Am Anfang seiner Karriere war Tilly ganz lieb und harmlos, bis vor rund 20 Jahren Zugleiter Hermann Schmitz und CC-Geschäftsführer Jürgen Rieck mehr scharfe Satire verlangten. Beginn einer Erfolgsgeschichte, um die Düsseldorf längst von Köln beneidet wird. Tilly ist dankbar, dass auch die späteren Verantwortlichen des CC diese Linie bestätigt und stets unterstützt haben und dies weiter tun.

„Karneval ist ein Menschheitsfest”, sagte Tilly zu Anfang seines Vortrags. Er führte Beispiele aus aller Welt an, von Ursprüngen an Euphrat und Tigris über Bräuche von Griechen, Germanen, Kelten, Römern bis zu heutigen Festen in Basel, in der Toskana, in New Orleans, Rio, Mexiko, auf den Philippinen – mit wachsendem Zuspruch auch in Afrika. Tillys universale Deutung: „Die fünfte Jahreszeit ist eine Zeit der Umkehrung der Machtverhältnisse, eine Auszeit von Mühsal, Plage, Strenge und Triebunterdrückung. Man darf der Obrigkeit ungestraft die Meinung sagen.” Gefeiert wird nach dem Winter auch der Vorfrühling. Christlich? Nun ja, teilweise. Die Fastnacht ist die letzte Ausschweifung vor der Fastenzeit. Tilly: „Die alten Bräuche bekamen hierzulande eine christliche Fassade, die Freiheit wurde gezähmt durch Rituale und ordentlich organisiert durch Festkomitees. Trotzdem bleibt der Karneval ein zutiefst anarchisches Fest.”

Auf Tillys Vortrag bei den Jonges folgte eine Bekräftigung von Dr. Daniela Antonin, stellvertretende Direktorin des Hetjens-Museums: „Satire und Meinungsfreiheit sind seit je Düsseldorfer Themen.” Sie stellte Tilly in eine Reihe mit Karl Immermann, Christian Dietrich Grabbe, Heinrich Heine, mit dem Pferdeäpfel-Attentat auf der Kö, mit Hermann Harry Schmitz, Leo Statz, schließlich Kay und Lore Lorentz mit ihrem Kabarett „Kom(m)ödchen”, aus dem Stars wie Dieter Nuhr, Christian Ehring und Volker Pispers hervorgegangen sind. Antonin lobte Tilly für Mut und Tapferkeit. Eine 90-minütige Filmdokumentation ist in Arbeit, Regie führt ihr Bruder Steve Antonin. Sponsoren werden gesucht. Mehr unter www.narrenfreiheit-film.de

sch-r