Pressespiegel2011Wissenplus 2011

Freche Kunst für die »fünfte Jahreszeit«

Wissen plus, 1/2011

Sie sind Bildhauer, Maler, Bühnenbildner, Ingenieure oder Kommunikationsdesigner. Sie alle teilen zwei Leidenschaften: die Liebe zur Kunst und zum Karneval. Das ist kein Widerspruch in sich. Jacques Tilly und seine Kollegen beweisen das mit ihren Kunstwerken auf vier Rädern seit mehr als 25 Jahren. In ihrem Atelier entstehen die Wagen des vielleicht bissigsten Karnevalsumzugs der Republik. Das ist der Rosenmontagszug in Düsseldorf.

Besucher betreten die riesige Halle durch einen unscheinbaren Seiteneingang. Hinter der Wand aus roten Ziegelsteinen und der Sicherheitstür aus Metall wartet eine fantastische Welt. Sie besteht aus verrückten Figuren, schrillen Formen und bunten Flächen. Es ist die Welt des Frohsinns, der Ausgelassenheit und der guten Laune. Es ist die der Narren. Doch eine Party wird dort an diesem Tag nicht gefeiert. Es herrscht vielmehr hektisches Treiben der anderen Art.

Im ehemaligen Straßenbahndepot der Rheinbahn AG stehen mehr als zwei Dutzend Karnevalswagen. Einige sind fertig montiert, bei einigen fehlt die Farbe und manche befinden sich noch im Rohbau. Das bedeutet: Auf den Lkw-Aufliegern – sie bilden den fahrbaren Untersatz – sind erst die groben Aufbauten aus Metallgittern oder Gerüsten befestigt. Doch das wird sich in den nächsten Tagen und Wochen ändern. Denn der große Tag rückt näher. Die meisten Wagen sind beim Düsseldorfer Rosenmontagszug im Einsatz, der bundesweit für seine bissige Satire berühmt und von manchen auch gefürchtet ist. Mitverantwortlich dafür ist Jacques Tilly und seine Crew. Ihr Ideenreichtum, ihre Freiheiten und die spezielle Bauweise verleihen dem »Zoch« in der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt seinen besonderen Charme. Doch der Reihe nach.

Bissige Satire

Zurück in das beinahe fußballfeld-große, denkmalgeschützte Straßenbahndepot. Fast an jeder Ecke wird gesägt, geflext und geschraubt. Mit Hochdruck arbeiten die Jecken an ihren Prunkwagen. Die Kosten dafür belaufen sich schnell mal auf mehrere Zehntausend Euro. Tillys Team beschäftigt sich mit den künstlerischen Elementen. Beispielsweise mit einem großen roten Löwen – der gehört zum Düsseldorfer Stadtwappen –, einem leicht bekleideten Funkenmariechen oder mit einer hochnäsigen Dame und ihrem feudalen Hut. »Dabei handelt es sich um Auftragsarbeiten. Bei diesen Figuren orientieren wir uns exakt an den Vorgaben der Kunden«, sagt Jacques Tilly. Er ist Rheinländer, Wagenbaukünstler und vor allem eins: Satiriker.

Seine politischen Wagen sind es, die für Aufsehen sorgen. Und sie haben dem 47-Jährigen in den vergangenen Jahren viele Beinamen eingebracht. Er wurde schon »Karnevalsrebell«, »Polit-Künstler« oder »Wagenbau-Zar« genannt.

Verantwortlich für den Düsseldorfer Umzug ist das Comitee Düsseldorfer Carneval e.V. (CC). »Und das lässt mir und meinem Team nicht nur freie Hand, sondern freut sich sogar über möglichst bissige Karikaturen«, strahlt Tilly. Er sieht seine Hauptaufgabe darin, die Grenzen der Narrenfreiheit voll auszureizen. Die Folge: ein bundesweites Medienecho und manchmal auch harsche Kritik. Mitunter sogar aus höchsten Kreisen.

Für Aufsehen sorgte etwa eine Karikatur von Helmut Kohl. Die Figur des Altbundeskanzlers wurde 1994 als Indianerhäuptling splitternackt auf die Strecke geschickt. »Leider haben wir den Entwurf vorab veröffentlicht. Deswegen hat mir die Darstellung die Drohung einer einstweiligen Verfügung eingebracht«, so der studierte Kommunikationsdesigner.

In der Folge wurde die sensible Stelle im Schoß mit einer Topfpflanze verdeckt. Beim Umzug verrutschte die Pflanze natürlich und lenkte den Blick der Massen zusätzlich auf den »Schritt der Macht«.

Närrische Freiheit

Seit einigen Jahren können solche Interventionen im Vorfeld nicht mehr passieren. Das CC traf im Jahr 2000 einen weitreichenden Entschluss: Seitdem werden nur noch die für den Zug zuständigen Mitglieder über die politischen Wagen mit ihren Karikaturen und Anspielungen informiert.

Die Arbeiten dazu entstehen in einem Nebengebäude des ehemaligen Straßenbahndepots. Das erreicht man über einen kleinen Hinterhof. Auf dem bietet sich dem Betrachter ein seltener Anblick. Inmitten der Metropole befindet sich ein beinahe ländliches Idyll: ein Gewächshaus, ein paar Tomatenpflanzen und zwei Hühner. Kontrastprogramm bietet das angrenzende Atelier. An einer Wand hängt eine Figur, die das Antlitz von Papst Benedikt zeigt - der wurde beim Rosenmontagszug 2009 aufs Korn genommen. Genau genommen seine Reaktion auf die antisemitischen Äußerungen des britischen Bischofs Richard Williamson, die in der Öffentlichkeit immer wieder Anlass für Kritik war.

Die Ideen für diesen und andere Wagen entstehen klassischerweise am Schreibtisch. Der befindet sich direkt im Büro nebenan. Das fungiert gleichzeitig als Küche, Gemeinschafts- und Konferenzraum. Neben dem Vorratsschrank mit Pasta, Kaffee und Keksen hängen viele Entwürfe an der sogenannten Ideenwand.

Gemütlich und chaotisch

Auf Basis der Skizzen fertigt der Künstler dann ausgearbeitete Entwürfe samt technischer Angaben zu Höhe, Breite oder Länge an. Danach werden die Vorgaben maßstabsgetreu auf riesige, transparente Folien übertragen. Dazu wird das »Gesamtkunstwerk« zunächst in verschiedene Bereiche unterteilt. Das führt dazu, dass jeder Wagen immer aus mehreren Segmenten besteht. »Das Vorgehen ist sehr effizient. Wir unterteilen die verschiedenen Arbeitsschritte in Stationen. So sparen wir Zeit und können schneller bauen. Dadurch sind wir in der glücklichen Lage, noch sehr kurzfristig reagieren zu können. Wenn beispielsweise kurz vor Karneval ein politisches Thema so wichtig ist, dass es auf jeden Fall satirisch kommentiert werden müsste, bauen wir einen Wagen. Das gibt es nur in Düsseldorf«, berichtet Jacques Tilly.

Die praktische Umsetzung startet mit der Befestigung der Folien auf speziellen Baulattenkonstruktionen. Der nächste Arbeitsschritt wird drahtig. Die aufgezeichneten Formen werden mit sehr viel Liebe zum Detail nachgearbeitet. Und so funktioniert's: Über die gesamte Fläche der Folie wird ein großflächiger Draht gespannt, und schon beginnt die Feinarbeit. Mit vorgefertigten Drahtstücken. Die liegen in fünf unterschiedlichen Breiten griffbereit parat. Verarbeitet werden diese kleineren Werkstücke von Svenja Heweling und David Salomo. Mit gekonnten Handgriffen verwandelt das Duo die flexiblen Matten in filigrane Kugeln, Röhren oder Rechtecke. Diese Formen bilden in den Augen der Künstler schon jetzt – für die »Narren« in ein paar Wochen – Nasen, Münder oder Mützen. »Die Verwendung von Draht bietet uns mehrere Vorteile. Das Metall ist robust, elastisch und in kurzer Zeit zu verarbeiten«, erläutert Svenja Heweling. Sie formt gerade mit den Fingern eine Figur, die einem Mainzelmännchen sehr ähnelt.

An der nächsten Station übernimmt Laura Thorenz. Ihr Arbeitsmaterial: Knochenleim, Wasser und wasserabweisendes Papier. Der Knochenleim wird zusammen mit dem Wasser aufgekocht. Das Ergebnis: ein leicht zähflüssiger Brei. »In den tunke ich die Papierblätter und knülle sie dann vorsichtig zu kleinen Kugeln zusammen«, sagt Laura Thorenz.

Einsatz der Kascheurin

Die so präparierten Blätter werden dann in vorsichtiger Handarbeit auf das Drahtgerippe der einzelnen Segmente aufgetragen. Der Fachbegriff dafür lautet Kaschieren. »Dafür benötigt man viel Routine und Gefühl. Ich streiche das Papier auf die Drahtform. Dabei dürfen keine Löcher entstehen«, erklärt Laura Thorenz.

Eine relativ dünne Papierschicht ist für den Einsatz beim Rosenmontagszug übrigens völlig ausreichend. Nach dem Kaschieren – das findet wieder im Straßenbahndepot statt – steht die nächste Station auf dem Programm: es folgen die Malerarbeiten. Zunächst wird weißer Acryllack aufgetragen. Das passiert im Sprühverfahren. »Pinsel kommen erst bei der Farbschicht zum Einsatz. Damit ziehe ich Konturen nach oder male kleinflächige Formen«, erklärt Theatermalerin Nancy Haischeid. Sobald sämtliche Segmente bemalt sind, werden sie am Wagen zusammengesetzt.

Die Nahtstellen werden dann noch mal kaschiert und nachcoloriert und der Wagen ist einsatzbereit. Und dann heißt es wieder: jebuddelt, jebaggert, jebützt – das ist das Motto des nächsten Umzugs der neuen Karnevalssession und des Düsseldorfer Rosenmontagszugs am 7. März 2011. [sdi]

 

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Jacques Tilly vor der »Ideenwand«. Die Skizzen sind die Grundlage für die technischen Zeichnungen mit konkreten Angaben zu den jeweiligen Abmessungen. Rechts: Die Figuren von Papst Benedikt und Bischof Williamson sorgten 2009 für eine Kontroverse. Tilly hat mit den Figuren die zögerliche Haltung des Kirchenoberhaupts zu den antisemitischen Äußerungen thematisiert.

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Handarbeit: David Salomo und Svenja Heweling befestigen Drahtmatten auf dem Segment.

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Fleißarbeit: Für das Kaschieren einer Figur oder eines Segments benötigt Laura Thorenz mehrere Hundert Papierstreifen. Die werden vor dem Anbringen in flüssigen Knochenleim getaucht.

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Bunte Arbeit: Malerin Nancy Halscheid benutzt entweder eine Sprühpistole oder klassisch Pinsel.