Pressespiegel2007WZ, 24.12.2007, Noch Christ?

Sind Sie wirklich noch Christ? Davon dürfen Sie ausgehen!

Westdeutsche Zeitung, 24.12.2007

BEGEGNUNG
Der Agnostiker und Atheist Jacques Tilly und der katholische Stadtdechant Rolf Steinhäuser trafen sich bei der WZ.
Das Gespräch führten Alexander Schulte und Uwe-Jens Ruhnau

Herr Tilly, was feiern Sie an Weihnachten?

Tilly: Meine Kinder sind geradezu weihnachtssüchtig. Wir feiern ein Familienfest, mit Adventskalender und Weihnachtsbaum. Aber wir haben keine Krippe und gehen nicht in die Kirche.

Herr Steinhäuser, finden Sie das inkonsequent?

Steinhäuser: Weihnachten feiern gehört für die meisten Menschen als Ritus einfach dazu. Es gibt ja bei uns muslimische Türken, die sich einen Christbaum ins Zimmer stellen. Es ist für eine Gesellschaft nicht unerheblich, dass sie etwas gemeinsam zu feiern hat. Das ist wie Kitt. Und gegen das, was Herr Tilly mit seiner Familie macht, kann ich schwerlich etwas haben. Ich genieße übrigens noch immer die schöne Krippe und den schönen Baum, auch wenn das vielleicht spießig ist.

Tilly: Ich genieße an den Feiertagen am meisten die arbeitsfreie Zeit und die Stille. Aber ich versuche nicht, aus meiner Psyche etwas Heiliges hervorzukratzen.

Christ zu sein hat Sie nie gereizt?

Tilly: Nein, aber ich habe mich immer mit dem Christentum auseinandergesetzt. Doch ich halte es heute, hart gesagt, zumindest in unserem Kulturkreis nur noch für eine folkloristische Religionsattrappe. Die meisten Christen haben sich von den Inhalten weit entfernt. An diesen Festen kehren sie dann gefühlsmäßig zurück, ohne dass das Konsequenzen für das eigene Leben hat. Mir bieten Wissenschaft, Philosophie und Kunst viel mehr Orientierung, ich brauche keine Religion.

Folkloristische Attrappe, das ist sehr provokant.

Steinhäuser: Dass es Menschen gibt, für die der Glaube nur eine Hülle ist, die nicht gefüllt wird, kann ich nicht bestreiten. Mir ist wichtig, die Gesprächsfähigkeit mit ihnen aufrechtzuerhalten.

Religion ist in den Talkshows allgegenwärtig, auf der Bestsellerliste stehen vier Bücher über Gott. Nur die Kirche hat nichts davon.

Steinhäuser: Das stimmt. Aber meine Weihnachtsfrage ist nicht: Wie kann die Kirche das Wasser von Weihnachten auf ihre Mühlen leiten? Weihnachten ist für mich ein so großartiges Fest, weil Gott menschliches Leben annimmt. Für uns heißt das: Teilhabe am göttlichen Leben. Jeder hat seinen Namen, seine Würde und seinen Wert vor Gott. Wenn Weihnachten dazu fuhrt, dass Menschen aufrecht gehen, selbstbestimmt leben können und den anderen auf Augenhöhe wahrnehmen, dann erfüllt es seinen Sinn. Ich gebe zu: Nicht nur Christen denken so.

Heiligabend immerhin sind die Kirchen voll. Ärgern Sie die bloßen Weihnachts-Kirchgänger?

Steinhäuser: Nein. Sicher, ich wünschte mir jeden Sonntag diese Resonanz. Aber ich freue mich Weihnachten über jeden, dem offenbar etwas wichtig ist, was auch mir wichtig ist. Außerdem mag ich mich nicht zum Richter darüber aufschwingen, was in den Menschen vorgeht. Da hat sich bei mir etwas verändert. Früher hätte ich abgrenzender formuliert: Wer nur Heiligabend in die Kirche geht, hat nichts begriffen.

"Wie mit einem großen Staubsauger hat das Christentum die antiken Mythen aufgesogen und sich daraus einen scheinbar eigenen Mythos zurechtgezimmert."
Jacques Tilly

Tilly: Jetzt muss ich aber doch mal die Wahrheitsfrage stellen: Beginnt Weihnachten wirklich die Menschwerdung Gottes? Die Weihnachtsgeschichte steht ja nur bei Lukas, und sie ist reine Fiktion. Am 25. Dezember wurde ursprünglich das römische Sonnenfest gefeiert, die Verfolgung des Jesuskindes zum Beispiel ist vom Herakles-Kult abgeleitet. Wie mit einem großen Staubsauger hat das Christentum die antiken Mythen aufgesogen und sich daraus einen scheinbar eigenen Mythos zurechtgezimmert. Und es hat sich dann mit Gewalt durchgesetzt.

Steinhäuser: Keine Frage, dass es eine Verwandtschaft zu Mythen gab. Aber das Christentum ist kein zeitloser Mythos, sondern die Geburt Jesu ist ein Ereignis in Raum und Zeit. In diesem Kind Gottes Sohn zu erkennen, ist freilich eine Sache des Glaubens. Christen schauen von Ostern her, von der Erfahrung des Auferstandenen, auf die Geburt in Bethlehem.

Tilly: Die Bibel ist von Menschen gemachte Literatur, die mit historischer Wahrheit fast nichts zu tun hat. Und das Christentum hat mit Hilfe staatlicher Gewalt und Zwang alle anderen Religionen unterdrückt. Toleranz ist eine Frucht der Aufklärung, nicht des Christentums.

Steinhäuser: Die Bibel ist Gotteswort in Menschenwort. Sie ist nicht einfach vom Himmel gefallen, sondern gibt die Erfahrungen ihrer Autoren mit Gott wieder. Als Katholik sage ich: Der Heilige Geist hat sein Wirken nicht im Jahre 30 beendet; er wirkt auch jetzt. Ich vertraue darauf, dass ich in der Bibel grundsätzlich Wahres erkennen kann. Außerdem denke ich, dass es Aufklärung ohne Christentum nicht gegeben hätte.

Tilly: Ihre Toleranz und Offenheit sind mir sehr sympathisch. Aber Sie sind Teil des Machtsystems Kirche, das Druck ausübt. Man kann sich nicht nur die Rosinen wie die Bergpredigt herauspicken und etwa den rächenden Gott und die Hölle ignorieren. Sie stehlen sich wie so viele in ein Christentum light heraus. Sind Sie wirklich noch Christ in vollem Umfang der Glaubensinhalte?

Steinhäuser: Ja, davon können Sie ausgehen. Und ich lasse es mir auch etwas kosten. Für einen beliebigen Glauben bin ich nicht zu haben; ich orientiere mich sehr bewusst an den Grundsätzen. Und ich halte am Gedanken einer absoluten Wahrheit fest - ich darf sie aber nicht anderen aufzwingen. Christus hat den Menschen auch nichts aufgezwungen.

"Die Bibel ist nicht eins zu eins wörtlich zu nehmen. Das Entscheidende ist der Versuch, Gottes Willen zu erkennen"
Rolf Steinhäuser

Tilly: Das ist wieder ein idealisiertes Jesus-Bild. Er droht an vielen Stellen und operiert mit Angst. Das entspricht nicht gerade höchsten ethischen Maßstäben. Ich wundere mich, wie lässig sich Christen da rausmogeln und das Unangenehme theologisch umwölken.

Steinhäuser: Die Bibel ist nicht der Koran. Sie ist doch nicht eins zu eins wörtlich zu nehmen. Das Entscheidende ist der Versuch, Gottes Willen für mich und meine Situation zu erkennen. Das ist ein komplexer Unterscheidungsprozess, da spielen die biblischen Texte und ihre Auslegungsgeschichte eine Rolle, die Kirche, meine Lebenserfahrung und meine persönliche Gottesbeziehung.

Plagen Sie beide bisweilen Zweifel?

Tilly: Der Zweifel gehört zum Kern meiner Identität. Ich suche permanent, ich will es wissen, auch wenn ich letztlich nur an die Religion unserer Unwissenheit glaube. Herr Steinhäuser, hatten Sie denn mal eine atheistische Phase?

Steinhäuser: Nein, es hat bei mir eher gewackelt, ich habe mich durchaus mal gefragt: Sitzt du nicht einer gigantischen Selbsttäuschung auf? Aber ich habe das Vertrauen auf Gott nie verloren.

JACQUES TILLY
VITA
Der Bildhauer Jacques Tilly wurde in Düsseldorf geboren und ist 44 Jahre alt. Er studierte Kommunikationsdesign. Seit 1984 arbeitet er als Wagenbauleiter für den Rosenmontagszug. Seine zum Teil sehr provokanten Wagen sorgten für hitzigen Protest etwa der katholischen Kirche. Tilly gehört zum Kuratorium der humanistischen und antireligiösen Giordano-Bruno-Stiftung.

ROLF STEINHAUSER
VITA
Rolf Steinhäuser ist 55 Jahre alt. Er wurde in Köln geboren, wo er auch sein Abitur machte. Nach dem Theologiestudium wurde er 1977 im Kölner Dom von Kardinal Höffner zum Priester geweiht. Der Pfarrer von St. Lambertus in der Altstadt wurde 1997 von Kardinal Meisner zum Düsseldorfer Stadtdechanten ernannt, ein Jahr später ernannte ihn Papst Johannes Paul II zum Monsignore.

Bildtext:
Stadtdechant und Lambertus-Pfarrer Rolf Steinhäuser (li.) und Wagenbaumeister Jacques Tilly stehen auf dem Burgplatz vor Düsseldorfer Symbolen von geistlicher und weltlicher Macht: St. Lambertus und Schlossturm. Fotos: Bernd Nanninga