Pressespiegel2004"Tusch", Nov. 2004

Jacques Tilly - ein Leben auf dem Drahtseil

November 2004

Knutschende Priester und nackte Kanzler

Köln. Jacques Tilly ist der unumstrittene Star unter den Karnevalswagenbauern. Seit mehr als 20 Jahren ist der Kommunikationsdesigner untrennbar mit dem Düsseldorfer Rosenmontagszug verbunden, begeistert und brilliert mit seinen Wagen. Die andere Seite der Medaille: Er irritiert, provoziert und hat schon Heerscharen von Anwälten beschäftigt, die ihm sein Handwerk legen wollten - allerdings bisher ergebnislos. Bei der diesjährigen Messe "Inter-Karneval" war Tilly's Workshop einmal mehr eine der tragenden Säulen im Rahmenprogramm. An allen drei Messentagen vermittelte er gemeinsam mit seinem kongenialen Partner Hermann Schmitz Tipps, Tricks und auch Grundlagen zum Umgang mit Maschendraht, Holzlatten und Pappmaché. Gerd Simons sprach mit dem 41-jährigen Allrounder.

Herr Tilly, seit vielen Jahren halten Sie Vorträge und geben Kurse zum Thema Wagenbau. Wie ist die bisherige Resonanz auf Ihre Lehrtätigkeit?

Viele Millionen an den Straßenrändern und im TV sehen die Rosenmontagsumzüge aus Mainz, Düsseldorf und Köln und sie fragen sich dann: Wie macht man bloß diese großen, vollplastischen Karnevalswagen? Durch meine Vorträge und Kurse versetze ich viele karnevalsinteressierte Menschen in die Lage, hier mithalten zu können. Ich bekomme von meinen "Schülern" sehr oft Fotos von eigenkreierten und selbstgebauten Karnevalswagen zugesandt. Die Ergebnisse erstaunen mich immer wieder aufs Neue und sind der der beste Beweis dafür, dass die meisten Wagenbauer nicht wissen, welches Potential in ihnen steckt. Da geht richtig die Post ab.

Es wirkt auf den ersten Blick "uncool", wenn Sie Ihre Berufsgeheimnisse verraten. Schließlich ist es Ihr Broterwerb.

In der Tat, ich vermittele meinen gesamten Erfahrungsschatz aus zwanzig Jahren professioneller Wagenbautätigkeit. Aber letztendlich kann ich den Schülern nur die Technik beibringen. Das künstlerische Talent, welches ja genauso wichtig ist, kann man im Grunde nicht erlernen. Wer also professionell und künstlerisch hochwertige Kanevalsdekorationen haben will, bestellt natürlich auch weiterhin seine Figuren und Wagen bei mir. Über die Internet-Seite www.karnevalswagen.de ist die Kontaktaufnahme mit mir sehr einfach. Aber viele Karnevalisten wollen ja selber bauen, weil sie Spaß daran haben. Mit einer optimalen Technik kann man sehr schöne Ergebnisse erzielen, auch wenn man kein großer Künstler ist.

Welche Inhalte vermitteln Sie während Ihrer Workshops oder an Ihrem Stand auf der Messe "Inter-Karneval"?

Ziel ist es, mit wenigen Mitteln die größte Wirkung zu erzielen, und da ist unsere so genannte Leichtbauweise ideal. Allein mit Dachlatten, Biegeleisten, Maschendraht und Pappmaché, einer Schicht in Leim getunktes Papier, kann jeder kinderleicht seine Ideen verwirklichen. Viele Karnevalisten bauen ja "für die Ewigkeit", hantieren mit kiloschweren Stahlwinkeln, dicken Holzbohlen und schweißen, was das Zeug hält. Vieles davon ist eigentlich gar nicht nötig. Deshalb rate ich allen "abzurüsten", sich sozusagen auf wenige Grundmaterialien zu beschränken. Das spart nicht nur Zeit, sondern auch viel Geld. Trotzdem gilt: ein "richtig" oder "falsch" gibt es beim Wagenbau nicht. Jeder kann und soll bauen, wie er es für richtig hält. Bei meinen Workshops und in meinen Kursen zeige ich am lebenden Objekt, wie wir hier in Düsseldorf die Wagen bauen.

Welche Grundvoraussetzungen sind für Ihre Leichtbauweise erforderlich?

Wer meine Leichtbauweise anwenden will, muss vor allem "drahten" können, also mit dem Maschendraht umgehen lernen. Und diese Technik kann man nicht allein durch Zuschauen erlernen. Da braucht man wirklich einen Lehrer und einige praktische Übungsstunden, in denen man die wichtigsten Handgriffe beigebracht bekommt. Sonst wird man das Material nie beherrschen. Und man muss geduldig sein und klein anfangen, sich langsam steigern. Erst mal werden bei mir in Wochenendkursen, die in meiner Wagenbauhalle in Düsseldorf abgehalten werden, einfache Grundformen wie Kugel und Zylinder gebaut. Nur wer wirklich erfahren ist, sollte sich an so komplizierte Motive wie etwa ein galoppierendes Pferdegespann heranwagen. Manch einer hat sich am Anfang überschätzt und ist gleich auf die Nase gefallen.

Sie sind jetzt schon zum vierten Mal auf der "Inter-Karneval" dabei. Wie beurteilen Sie die Messe?

Die Karnevalsszene ist ja ziemlich zersplittert. Jeder werkelt in seinem Mikrokosmos vor sich hin. Die Bedeutung der Messe liegt meiner Meinung darin, dass endlich ein gemeinsames Forum für alle Karnevalsfreunde aus dem In- und Ausland geschaffen wurde. Ich finde es fantastisch, was da von den Organisatoren in den letzten Jahren aufgebaut worden ist. In Sachen Wagen- und Figurenbau bin ich bundesweit zum Ansprechpartner für alle Karnevalisten geworden, die Hilfe oder Beratung brauchen. Das wäre ohne die Messe nicht möglich gewesen. Von der Messe profitieren alle Karnevalisten im In- und Ausland.

In Ihrer Wagenbauarena war ein knutschendes Priesterpaar und ein splitternackter Kanzler zu besichtigen. Jacques Tilly, sind sie ein Provokateur?

Ich will nicht um jeden Preis provozieren, sondern mutige Wagen bauen, die auffallen und Aufmerksamkeit erregen. Im Gegensatz zu den Themen, die heute im Unterhaltungs-Fernsehen geboten werden, sieht der Karneval ja oft ziemlich altbacken und müde aus. Auf der Jagd nach öffentlicher Aufmerksamkeit will ich helfen, den Karneval wieder nach vorne zu bringen. Ich bin dem Comitee Düsseldorfer Carneval und seinem Geschäftsführer Jürgen Rieck sehr dankbar, dass ich hierbei immer wieder ermutigt und unterstützt werde. Die innovativen Karnevalisten haben genau begriffen, warum es hier geht.

Sind die aus Ihrem Wagen entstehenden Skandale und Negativschlagzeilen in Düsseldorf nicht schädlich für den Karneval?

Im Gegenteil, es schadet dem Karneval, wenn er so mutlos, langweilig und traditionsorientiert durchgeführt wird, dass er von den Medien nicht mehr recht wahrgenommen wird. Dann bleiben z.B. die Menschen und die Sponsoren weg. Der Karneval verliert schleichend an Bedeutung, was nicht passieren darf. Der Rosenmontagszug hat ja starke Konkurrenz bekommen, wie etwa den "Karneval der Kulturen" in Berlin oder die vielen Christopher-Street-Day-Paraden. Da dürfen wir uns nicht abhängen lassen.

Haben Sie eine politische Botschaft?

Meine politische Motivwagen sind zwar oft bissig und rotzfrech, aber ich betrachte mich als parteipolitisch neutral. Das heißt ganz einfach, dass bei mir jeder eine Breitseite bekommt, der sie verdient hat. Dabei spielen das Ansehen der Person, des Amtes oder der Partei keine Rolle. Ich will ja keine Propaganda machen, sondern die Leute am Straßenrand und Fernseher mit möglichst gelungener politischer Satire unterhalten. Der Karneval ist für alle da.

Hat der Karneval aus Ihrer Sicht eine Zukunft?

Der klassische Traditionskarneval hat ein Überalterungsproblem. Vieles hat sich dort wirklich überlebt. Wenn der Karneval wieder die jüngeren Menschen anziehen will, muss er sich den Zeiten anpassen, wilder, freier und frecher werden. Nirgendwo ist festgelegt, was der Karneval ist und was nicht, auch wenn einige schon betagte Vereinsfunktionäre das anders sehen. Der Karneval ist aus meiner Sicht das, was die Menschen daraus machen. Er ist eine wunderbare Bühne für jedermann, seinen Frohsinn und Wahnsinn auszuleben. Der Beitrag, den etwa die Schwulen seit Jahren verstärkt im Karneval leisten, ist außerordentlich erfrischend und vorbildlich.

Letztes Jahr gaben Sie auf der Messe einstündige Kurse, dieses Jahr durfte das Publikum Ihrem gesamten Team beim Arbeiten zusehen. Was kommt nächstes Jahr?

Ich plane auch weiterhin, meine Figuren live zu bauen, aber eine Videokamera soll mir das nächste Mal genau auf die Finger schauen. Die Zuschauer können dann die entscheidenden Dinge auf der Leinwand nachvollziehen. Natürlich zeige ich in meiner Wagenbauarena wieder die schönsten und gewagtesten Figuren aus dem nächsten Düsseldorfer Rosenmontagszug. Die "Inter-Karneval" ist ja auch immer eine wunderbare Gelegenheit für mich und auch die ideale Location, meine Werke auszustellen.