Pressespiegel2010FAZ-Unternehmergespräch, 15.2.2010

"Täter müssen sich was gefallen lassen"

Frankfurter Allgemeine, 15.2.2010, von Werner Sturbeck

Das Unternehmergespräch: Jacques Tilly, Karnevalswagenbauer und Chef der Künstlerkolonie Sculpturepark

Die Karnevalswagen in Düsseldorf sind für ihre politische Frechheit berühmt. Viele der Motive stammen von einer kleinen Künstlerschar.

DÜSSELDORF, 14. Februar
Auch an diesem Rosenmontag wird sich Jacques Tilly in das Karnevalsgetümmel stürzen. Wie immer wird er an seinem Stammplatz an Düsseldorfs Flaniermeile "Kö" von einer hohen Aluminiumleiter aus "seine" Wagen im Karnevalszug fotografieren. Vor mehr als vier Jahrzehnten hatte der Vater ihn erstmals auf eine Leiter gehoben, um dem damals vierjährigen Knirps einen besseren Überblick auf das bunte Treiben zu bieten. "Ich habe als Kind und Jugendlicher gern Karneval gefeiert, aber ein leidenschaftlicher Karnevalist bin ich nicht", gesteht er.

Dabei widmet Tilly seit langem etwa die Hälfte des Jahres dem Karneval. Durch Zufall kam er schon 1984 zum Wagenbau. Es blieb zunächst ein Job, mit dem er sein Studium (Kommunikationsdesign) in Essen finanzierte. Längst aber finden die von ihm und seinem Team geschaffenen Wagen Beachtung weit über die Stadtgrenzen hinaus. Im rheinischen Karneval ist die Nachbarstadt Köln zwar die Hochburg. Doch am Höhepunkt der fünften Jahreszeit, am Rosenmontag, hat sich die Düsseldorfer Wagenkolonne inzwischen den Ruf als kreativster und provokantester Umzug in Deutschland geschaffen. Kirche, Minderheiten und nackte Prominente sind beim Umzug in Köln tabu. "Aber wer Kriege, Religion und Minderheiten ausschließt, verzichtet auf 80 Prozent der Weltpolitik", sagt der Düsseldorfer Wagenbauer.

Scharfe Persiflage ist Tillys Rezept. Sein Motto: "Wir spotten nicht über Opfer. Aber Täter müssen sich was gefallen lassen." Und er hat Rückhalt bei den Verantwortlichen des Umzuges. Die wollen freche politische Satire in der Landeshauptstadt. Tilly verdankt seine Narrenfreiheit der seit dem Jahr 2000 etablierten "Diktatur", wie er spöttelt. Damals verhinderte die abgewählte Düsseldorfer Oberbürgermeisterin ein bissiges Motiv. Nicht zum ersten Mal wurde einer der bis dahin öffentlich präsentierten Wagenentwürfe Opfer von Bedenkenträgern.

So wurde vor zehn Jahren ein neuer Modus beschlossen, um das Zerreden der Entwürfe künftig zu verhindern. Seither kennen nur der Geschäftsführer des Comitees Düsseldorfer Carneval, der Karnevalsvereinspräsident und der Zugführer die Motive. Allein sie entscheiden darüber, ob ein Wagen fahren darf oder nicht. Jahr für Jahr testet Tilly die Grenzen aus. Da bleibt es nicht aus, dass manches Motiv als geschmacklos empfunden wird. Mit dem Triumvirat ist Tilly jedoch bislang sehr gut gefahren. Seit der Einführung der "Diktatur" macht ihm seine Arbeit so viel Spaß, dass er sie erst dann aufgeben will, "wenn man mich aus der Wagenbauhalle tragen muss".

Für mehr als die Hälfte der 70 Großwagen, die sich in einem kilometerlangen Lindwurm einer Million Narren präsentieren werden, hat Tilly mit seiner Künstlergruppe Entwürfe und Anregungen geliefert. Etwa 25 Wagen hat die Gruppe selbst gestaltet. Im Spätsommer begannen erste Arbeiten in der Halle des Düsseldorfer Straßenbahndepots an den Prinzen- und Prunkwagen. Ab Januar wurde es von Tag zu Tag lebhafter. Immer mehr Maler in farbbeklecksten Kitteln turnten mit Sprühdosen über die Aufbauten, um den feinen, über Maschendraht geklebten Papierschichten mit leuchtenden Farben den letzten Schliff zu verpassen.

Hinter der Wagenhalle liegt an einem Hof das Zentrum von Tillys Unternehmen Sculpturepark: eine kleinere Werkhalle, vollgestopft mit Aufbauteilen, Drahtrollen, Farbgebinden und Holzlatten; in der Mitte eine riesige Stellwand, auf der die ersten Ideen für die Motivwagen festgehalten und entwickelt werden. Überall sind Farbspuren zu sehen. In der Mitte des Hofes steht ein gewaltiges Industriezelt. Es ist abschließbar und nicht einsehbar. Dort entstehen in den letzten Wochen vor dem Karneval-Wochenende die vom Comitee in Auftrag gegebenen zehn politischen Motivwagen. "Sie sind das Sahnehäubchen des Zuges und auch unserer Arbeit", sagt Tilly.

Die Ereignisse, die er mit den politischen Motivwagen karikiert, müssen aktuell sein und des Volkes Seele bewegen. Der Bundeskanzler - oder nun die Bundeskanzlerin - sind jedes Jahr ein Muss für den Umzug. Ansonsten bestimmen die Tagesereignisse aus Politik, Gesellschaft und Religion, welche Persönlichkeiten für satirische Motive herhalten müssen. Anders als in Köln sind der Papst und der Kardinal der Domstadt häufige "Gäste" auf den Düsseldorfer Wagen.

Bei dem Stichwort Aktualität erinnert Tilly an die Saison 2003, als der Irak-Krieg in der Luft lag. Wenige Tage vor dem Rosenmontag hatte die damalige CDU-Vorsitzende Angela Merkel in Washington dem amerikanischen Präsidenten die Unterstützung ihrer Partei versichert. Im Düsseldorfer Umzug wurde daraus ein auf allen vieren kniender Bush, aus dessen entblößtem Hintern Merkels Oberkörper ragte und amerikanische Fähnchen schwenkte. Der Wagen erhielt Applaus auf der Straße und zierte in diversen Tageszeitungen die Titelseite.

Tillys Entwürfe erhalten in der Leichtbauweise ihre Form. Um ein Gerüst aus Dachlatten werden die Motive mit leichtem Kaninchendraht modelliert, mit leimgetränktem, dünnem Blumenpapier überklebt und mit Acryllack farbenfroh und wetterfest gemacht. Das geht so schnell, dass ein Aufbau bei neuen Ereignissen schon mal in 24 Stunden geschaffen und am Rosenmontag mit noch feuchtem Lack auf den Weg geschickt werden kann. Das Team um Tilly besteht aus einer Handvoll überwiegend weiblicher Künstler sowie seinem Vater, der als pensionierter Diplomingenieur die technischen Probleme löst. Ihnen steht je nach Bedarf eine wechselnde Zahl von Praktikanten und freiwilligen Helfern zur Seite. "Wir sind kein Unternehmen, sondern eine Künstlerkolonie", beschreibt der Kopf und Motor von Sculpturepark die Unternehmung. Reich könne man vom Bau der Karnevalswagen nicht werden, dafür aber ein recht freies Leben führen.

"Politische Motivwagen sind das Sahnehäubchen des Karnevalszuges und auch unserer Arbeit."

Auch in der gemessen am Umsatz ergiebigeren anderen Jahreshälfte werden seit 1998 Skulpturen und Plastiken gebaut. Damals bestellte der Wiener Künstler André Heller bei Tilly eine Dekoration zum Firmenjubiläum des Essener Versorgungskonzerns RWE. Bei der Festveranstaltung spielte seinerzeit ein Orchester auf der Schallplattenauflage eines überdimensionierten Grammophons. Dieses Werk Tillys war der Einstieg in ein breites Produktprogramm an Dekorationen oder Bühnenbildern. Auftraggeber sind Messeaussteller, Diskotheken, Theater, Film- und Fernsehstudios sowie Veranstalter aller Art. Auch der Fußballbundesligist Schalke 04 oder die Umweltorganisation Greenpeace haben Skulpturen bestellt.

Als Kommunikationsdesigner versteht es Tilly, im Karneval "Botschaften so zu reduzieren, dass es bei den Jecken am Straßenrand in der Sekunde des Vorbeiziehens klick macht". Selbst dann, wenn die Jecken bereits einige Altbier intus haben. "Humor ist das erste Ziel bei den Umzügen", sagt der Künstler. Wenn das nicht erreicht werde, sei der Wagen ein Rohrkrepierer. Im roten Overall ist Tilly in seiner Geburtsstadt nicht nur unter Karnevalisten bekannt wie ein bunter Hund. Auch in der Gilde der Wagenbauer genießt er einen guten Ruf, seine Workshops zum Leichtbau sind stets gut gebucht. Aber seine Arbeiten bleiben meist anonym. Schon wenige Stunden nach dem Umzug werden die Wagenaufbauten von einem Entsorgungsbetrieb in Würfel zusammengepresst. "Alles nur Hohlköppe - da bleibt nicht einmal ein halber Kubikmeter", sagt Tilly.

Das Unternehmen

... ist im Grunde kein richtiges Unternehmen, sondern eine Künstlerkolonie in einer alten Werkhalle in Düsseldorf. Dort werden seit Jahrzehnten Karnevalswagen gebaut. 1998 inspirierte ein zufällig erhaltener Großauftrag aus der Wirtschaft dazu, die Erfahrungen der Leichtbauweise kommerziell auch anderweitig zu nutzen. Das war die Geburtsstunde von Sculpturepark. Seitdem hat sich die Kundenliste enorm erweitert: Riesige Rosenblüten für "Wetten, dass..." gehören ebenso dazu wie ein 7 Meter hohes, mit Atommüllfässern versehenes Trojanisches Pferd für Greenpeace.

Der Unternehmer

... wollte nach dem Abitur eigentlich Journalist werden. Aber der 1963 als Sohn eines Diplomingenieurs und Fotografen sowie einer Malerin geborene Düsseldorfer Jacques Tilly entschied sich dann doch für die Bildsprache. Das Studium Kommunikationsdesign in Essen finanzierte er als Karnevalswagenbauer. Nach einigen Jahren als Designer und Illustrator in Werbeagenturen entschied er sich ganz für den Bau von Großskulpturen. Heute nennt er sich "Universaldilettant", der mit seinen Fähigkeiten als Bildhauer oder Satiriker mal provoziert, mal Freude produziert.