Der Zugphilosoph
Der Spiegel, Nr. 8/2007, von Jochen-Martin Gutsch
Wie in Düsseldorf Politik zur Rosenmontagsware wird
Er blättert durch den Ordner mit den Entwürfen. Lauter gestorbene Ideen der vergangenen Wochen. Motive, die es nie auf einen Karnevalswagen beim Rosenmontagszug schaffen werden, weil sie zu lahm sind oder zu hart oder zu platt oder zu speziell. Oder zu alt.
Auch Ackermann, der Banker, ist erledigt. "Ach, der Ackermann", sagt Tilly. "Interessiert doch keinen mehr."
Tilly blättert weiter. Gesundheitsreform. "Langweilig", sagt er. "Gesundheitsreform macht jeder. Gibt ja sonst nichts."
Putin vielleicht.
Der russische Präsident hält einer gefesselten blonden Frau, deren Augen verbunden sind, eine Pistole an den Kopf. "Pressefreiheit" steht auf der Pistole.
"Nicht lustig", sagt Tilly. "Wer lacht darüber? Da wird ein Mensch erschossen."
Ursula von der Leyen hätte funktionieren können, die erschießt niemanden. Ursula von der Leyen massiert ihre Brüste, die nackt sind und melonengroß und aus denen Elterngeld fließt. Brüste sind wahrscheinlich nie falsch im Karneval.
"Nee, zu unappetitlich", sagt Tilly. "Haben auch schon genug Körperflüssigkeiten dieses Jahr. Datt reicht."
Tilly blättert weiter. Variationen von George W. Bush, Variationen von Peter Hartz. Dann die Große Koalition, muss man ja irgendwie machen, aber wie? Tilly guckt gelangweilt auf seinen alten Entwurf: ein Dinosaurier mit zwei Köpfen.
"Stillstand ist schwierig in der Umsetzung. Verdammt schwierig. Die Frage ist ja: Wie füllt man einen Negativraum?"
Tja.
Jacques Tilly ist der Wagenbaumeister des Düsseldorfer Rosenmontagszugs. Er ist 43 Jahre alt und trägt einen roten Overall, in dem er aussieht wie jemand vom Fernsehreparaturdienst. Tillys Spezialität sind die politischen Umzugswagen. Tilly ist, wenn man so will, für die Wurzeln des Karnevals zuständig: den Spott und die Anarchie. Er darf den Mächtigen ans Bein pinkeln, er ist der Mann für die große Abrechnung. Volk versus Herrschende. Unten gegen oben. Einmal im Jahr. Immer Rosenmontag. Das ist die Idee.
Wenn es gut läuft, wird sich jemand nach dem Umzug bei Tilly beschweren. Wenn es sehr gut läuft, wird er Tilly eine Klage androhen. Wenn es sehr schlecht läuft, bekommt Tilly Lob für Fairness und Ausgewogenheit. Für Langeweile also.
Das ist noch nie passiert. Aber Jacques Tilly ist von den Zeiten abhängig. Oder anders gesagt: Gibt es zu viele Negativräume, wird es schwierig.
Tilly legt den Ordner zur Seite. In der Werkhalle hängt der Geruch von Holzstaub und Farbe, Tillys Hände sind zerfressen und verbeult, er baut seit über 20 Jahren Karnevalswagen. Er fing als Student an, mit den Jahren wurde er ein kleiner Star, der Mann mit den schärfsten Wagen.
Tilly hat Kardinal Meisner gebaut, wie er auf dem Scheiterhaufen eine Frau verbrennt, die abgetrieben hat. Er hat Angela Merkel aus dem Hintern von Uncle Sam winken lassen und Gerhard Schröder zur Domina gemacht. Die vergangenen Jahre waren nicht schlecht in Düsseldorf.
Tilly steht auf, das Handy klingelt, es klingelt immerzu. Tilly muss neun Wagen fertig machen, zwei Tage vor Rosenmontag kann er noch immer reagieren, vielleicht passiert ja doch noch was, politisch. Irgendein Knaller. Könnte er gebrauchen.
Begonnen hat Tilly mit Kohl. Das war sein erster Wagen, Anfang der Achtziger. Helmut Kohl im Sonnenstuhl mit Sonnenbrille und Cola in der Hand. Der Nichtstuer. Ein großer, dicker Negativraum. Im Prinzip sind die alten Zeiten jetzt zurückgekehrt. Der Vorteil der müden Achtziger gegenüber dem müden Heute waren die Trennungslinien, sie zogen sich durch das Land und durch die Welt. Links und rechts. Rot und schwarz. Warschauer Pakt und Nato. SS-20 und Pershing-2.
Im Moment sind die Linien irgendwie verwischt. Große Koalition. Großer Konsens. Großer Mist. 2006 war schon Krampf, sagt Tilly. Er hat dann den damaligen SPD-Chef Matthias Platzeck ins Dekollete von Angela Merkel gesetzt. Platzeck erstickte. Jetzt gibt es Kurt Beck, der trägt auch Bart, aber sonst? Was war mit Kurt Beck in diesem Jahr? Oder mit Steinbrück? Oder Glos? Oder Jung? Wer erinnert sich daran? Jung, den CDU-Verteidigungsminister, würde niemand erkennen, sagt Tilly. Keine Wageneignung. Eine gute Wagenfigur muss populär sein, sich am besten selbst erklären, aus einiger Entfernung und trotz Alkohol im Blut leicht identifizierbar sein und im weitesten Sinne streitbar. Vielleicht kam Tilly deshalb auf Adolf Hitler.
Hitler könnte rollen am Rosenmontag. Hitler war in letzter Zeit überall. Hitler war im Gespräch. Mehr als Jung und Steinbrück und Glos und Beck. Unterschicht könnte man machen, Unterschicht soll man aber nicht machen, sagt der Bund Deutscher Karneval. Zu diskriminierend. Religion ist auch unerwünscht. Zu verletzend. Zu viele Tabus. Genau deshalb ist Religion ein hübsches Thema, findet Tilly. Die Gesellschaft entpolitisiert sich vielleicht, wird aber dafür religiöser. Karneval geht gegen die Mächtigen. Und niemand ist mächtiger als Gott. Oder Allah. Im vergangenen Jahr hätte Tilly gern einen Wagen gebaut, der vier Frauen in einem Entwicklungsprozess zeigt. Bekleidungstechnisch. Die erste trägt noch einen Schleier, die vierte steckt in einem Sack. Dann kam der Karikaturenstreit, der Wagen wurde nie gebaut. Im Moment weiß Tilly nicht genau, was wieder möglich ist. Und sonst?
Bush, sagt Tilly. Bush kann man immer bringen. Moderner Karnevalsklassiker.
Dann klingelt das Handy, Tilly springt auf. Er muss weiter. Einen Augenblick lang steht er zwischen zwei riesigen Köpfen von Adolf Hitler und George W. Bush, als suche er noch etwas, das dazwischenpasst.
Bildtext
Baumeister Tilly: Welcher Prominente hat Wageneignung?