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Kamelle fürs Volk, Prügel für die Mächtigen

Mainzer Allgemeine Zeitung, 5.2.2005, von Thomas Olivier

Über die respektlosen Karikaturen des Jacques Tilly lacht die ganze Welt - und empört sich über seine Karnevalswagen

Der Kanzler als Exibitionist, die CDU-Chefin im Eva-Kostüm, der US-Präsident mit Pinocchio-Nase - Hohn und Spott gießt der 41jährige Düsseldorfer Künstler an Rosenmontagen über die Mächtigen in Berlin und Anderswo: Der Nachfahre der Feldherren-Legende Graf Tilly aus dem Dreißigjährigen Krieg ist Deutschlands berühmtester und umstrittenster Karnevalswagenbauer. Die Bilder seiner "scharfen" Motiv-Wagen gehen um die ganze Welt. Kamelle fürs Volk, Prügel für die Mächtigen: Auch dieses Jahr will Jacques Tilly es "wieder richtig krachen lassen".

Jeden Rosenmontag dieselbe Geduldsprobe: Seit einer Stunde läuft der Zug, und der Mann im Ski-Pullover wird zum Jäger. Kamera um, Leiter rauf. Auslöser drücken, Leiter runter. "Das treibt mich noch in den Wahnsinn!" schnauft Tilly. Gerade mal 24 Stunden haben seine Pappmaché-Provokationen Bestand. Da will der Meister sie wenigstens im Bild für die Ewigkeit festhalten. "Karneval ist Kunst für den Sofortverzehr!" ruft er und schwingt sich für den nächsten Schuss auf seinen schwankenden Alu-Hochsitz. Hoch über der närrischen Menschenwoge drückt der König der Wagenbauer auf den Auslöser, während seine nächsten Opfer, die halbe Bundesregierung und die Köpfe der Opposition, anrollen: Tilly hat der wilden Angy das letzte Hemd geraubt. An ihrer Keule baumeln die Schrumpfköpfe von Stoiber, Koch und Merz. "Wir machen hier keinen Kindergeburtstag!"

Am Abend sieht es die ganze Welt: Tillys Spott-Flotte flimmert über den Bildschirm. Im Vorspann der ARD-"Tagesthemen" und des ZDF-"heute-journal" kungeln Bush und Saddam unter einer Decke. "Ein Bild, auf das die Welt gewartet hat!" kommentiert die Nachrichtensprecherin. Tags darauf ziert das ungleiche Papp-Paar weltweit die Aufmacher der Tageszeitungen.

Bis zum Morgengrauen hatte Tilly am Saddam/Bush-Wagen noch letzte Hand angelegt, schnell die Herzchen um die Füße gemalt, sich danach drei Stunden aufs Ohr gelegt und ein paar Happen zu sich genommen. Dann ging es auch schon zum Zug, im Gepäck die ewig bange Frage: Haben sich die schlaflosen Nächte gelohnt? Werden die Jecken lachen? "Man muss schon kriegstauglich sein."

Die Wiege der Wagen liegt inmitten der tektonischen Zone deutschen Frohsinns: Ein stillgelegtes Straßenbahndepot in Düsseldorf mitsamt Büro- und Lagerräumen ist Tillys hektische Heimat. "Wenn die Blätter von den Bäumen fallen, ziehen wir hier ein, wenn die Krokusse sprießen, wieder aus." Seit Herbst wird hier gehämmert, gesägt, geschraubt, gedrahtet, geschweißt, modelliert und gemalt.

Ein kunterbunter Fuhrpark wartet schon auf die große Parade. Doch Skandalöses ist weit und breit nicht zu entdecken: Nur harmlose Wesen aus Pappe und Kleister glotzen von den Aufbauten der Anhänger - dumme Auguste, üppige Schönheiten mit dämlichen Gesichtern, dazu ein paar Löwen, Adler, Kraken, Elefanten und Drachen. Keine bitterbösen Karikaturen, keine würzigen Pointen, keine Politprominenz, die zur Kenntlichkeit entstellt wird, nur lammfromme Parolen auf Prunk- und Werbewagen. Die rollenden Respektlosigkeiten sind karnevalistisches Staatsgeheimnis, das erst am Rosenmontag gelüftet werden darf. "Das erhöht den Effekt und erspart leidige Diskussionen." Die hat Tilly satt.

Nicht selten sorgten in der Vergangenheit seine Karikaturen schon im Vorfeld für Empörung: Boulevardpresse und Lokalredaktionen stürmten die Wagenbauhalle, verrieten die Gags, bevor sie auf die Straße rollten. Ob Ministerpräsident oder Kanzler, Erzbischof oder Parteivorsitzender - Politik und Kirche empören sich, Sponsoren drohen, den Geldhahn zuzudrehen: "Das war karnevalsexistenzbedrohend."

Mindestens alle zwei Jahre gab es Ärger. Einmal musste ein Riesenbusen mit einem BH entschärft werden, ein anderes Mal erhitzte ein gekreuzigter Narr die Gemüter. "Faschingsscherz oder Gotteslästerung?", fragte das Blatt mit den dicken vier Buchstaben. Damals kamen Briefe angeblich kreuzbraver Bürger: "Du gehörst erschossen, du Sau".

Sein Riesenatelier ist für Tilly der letzte Hort der wahren Narren. Ein Ort, wo erwachsene Frauen und Männer mit der kindlichen Lust am Streichespielen nächtelang Pappen malen, drahten, kaschieren und ihre eigenen Funktionäre als "Mützenträger" verspotten.

Keine Zeit für Späße. Kurz vor Rosenmontag ist Tilly in Bau- und nicht in Karnevalsstimmung: "Hier läuft keiner mit roter Pappnase herum!" So redet einer, der ohne Kappe auskommt, der kein Karnevalist ist und doch ein Narr: "Ich war noch nie auf einer Prinzenkürung."

Mitunter Tag und Nacht bauen der Chef und sein Künstlerteam "Sculpture Park" im Winter für den Rosenmontag und die Vergänglichkeit. 15 Prunkstücke, darunter auch die Fest- und Werbewagen. Eine Tour de Force zwischen Drahtrollen und Terpentinkanistern, Farbeimer, Kaffee- und Spaghettiresten. Beim Modellieren der Objekte hört Tilly Kassetten, die er selbst besprochen hat. Die Bibel etwa oder eine philosophische Sichtweise wie diese: "Ich habe keine Zuflucht im Unmenschlichen mehr, ich bin nur noch der Schauplatz einer Frage..."

Das Konzept für die politischen Motive steht erst kurz vor Rosenmontag: "Dann sind die Themen heiß und aktuell!" Tilly setzt auf Flexibilität, er reagiert schnell auf aktuelle politische Entwicklungen. So manches Mal kam Merkels Prinz-Eisenherz-Haarschnitt erst im Morgengrauen in Form. "Wir können innerhalb von 24 Stunden einen Wagen bauen." Für den Fall, dass Schröder oder Stoiber am Karnevalssonntag zurücktreten, würden sie bereits tags darauf als Pappkameraden durch die Stadt zuckeln. Solche Abgänge kämen wie gerufen - natürlich nur "streng karnevalistisch" gesehen. "Es sind schon Wagen nass auf die Straße gefahren. Da war die Farbe noch nicht einmal angetrocknet."

Technisch alles kein Problem. Der gelernte Bildhauer werkelt mit einer speziellen Leichtbauweise, die den Opfern seiner Kunst wie auf den Leib geschneidert zu sein scheint: Flexibler, in alle Richtungen biegsamer Kaninchendraht als Kern, ein dünnes Mäntelchen aus Pappmaché, das in Windeseile ausgetauscht werden kann - und innen ganz viel Luft.

Die Veräppelung beginnt mit einem "Grundei" auf Maschendraht, das später mit leimgetränktem Papier kaschiert wird. "Kein anderes Material lässt sich so biegen und pressen." Auch diese Grundform wird die charakteristische Physiognomie der Figur eingemessen, übertragen und markiert: "Es macht keinen Sinn, den Schröder fett zu machen. Dann wird's sofort ein Kohl." Den zunehmen barocker werdenden Altkanzler hat Tilly am häufigsten gedrahtet - und am Ende immer mehr Material verbraucht. "Zum Schluss sah Kohl aus wie Jabba, die grüne Bettwurst aus "Star Wars 3". Dankbar war stets Lafontaines spitze Nase. Andere Politiker geben als Zielscheibe weniger her: Merz etwa oder Schröder. "Sie sind irgendwie glatter und haben nichts Markantes im Gesicht."

"Weichgespülte" Themen wie die Gesundheits- oder die Rentenreform spart der Künstler aus. Respektlosigkeit ist für den studierten Kommunikationsdesigner ein Ehrenprädikat, eine geschmackvolle Karikatur sozusagen ein Widerspruch in sich: "Satire braucht starke Bilder." Da kam der Hilferuf eines Narren Ende der 80er Jahre gerade recht. Ein Freund bat den ehemaligen Illustrator, "Kalender- und Postkartenmaler" Jacques Tilly um Unterstützung beim Wagenbau: "Ich wusste gar nicht, dass man davon leben kann."

Mittlerweile braucht er "nur einen Schneemann zu bauen", und ein Skandal ist ihm gewiss. Millionen Narren lachen seit 15 Jahren am Rosenmontag über das, was Tilly zuvor wochenlang den Schlaf geraubt hat. Der Jubel der Jecken entschädigt den langen Schlaks mit den ruhigen Augen für die gelegentlichen Kräche: "Es macht großen Spaß, wenn kontrovers diskutiert wird und die Medien sich darauf stürzen."

Tilly teilt nach allen Seiten aus. Nie waren die Spötteleien so frech wie in den vergangenen vier Jahren: Ein splitterfasernackter Kanzler erschrickt die alte Tante SPD: "Der Staat ist pleite!" Sein wütender Vorgänger klemmt mit dem Allerwertesten die Stasi-Akten fest. Merkel und Merz streiten sich um die Vorherrschaft in Loriots Badewanne. Innig und nach rückwärts gerichtet stellt sich das besondere Verhältnis der CDU-Chefin zu den USA dar: Die Oppositionsführerin kriecht Uncle Sam in den Allerwertesten.

Die drastischen Darbietungen hätten vor 10 Jahren noch eine Welle der Empörung ausgelöst. 1994 wagte sich der damalige Bundeskanzler als Papp-Kannibale im zu kurz geratenen Baströckchen auf die Königsallee. Ganz Deutschland amüsierte sich. Weil Klage drohte, ließ Tilly vor Zugbeginn noch schnell Gras "über die Sache" wachsen. Er stellte eine Pflanze vor den kleinen Unterschied - sie kippte während des Zuges um. Bonn erregte sich damals aufs Heftigste.

Der Zoff hat Tillys Marktwert erhöht. Narren und Faschingsvereine aus der gesamten Republik strömen in seine Wagen-Workshops, immer häufiger rollen seine Kreationen auch durch Städte wie Krefeld, Aachen, Mönchengladbach, Erfurt, Berlin und Hamburg.

Das Schönste am Karneval ist für den Auftragsnarr die Zeit danach, der Aschermittwoch jedesmal der Eintritt in eine andere Welt. Dann wird Tilly wieder tiefgründige Bücher verschlingen, seine Söhne Camillo (6) und Valentin (4) zum Kindergarten bringen, über Helge Schneider lachen, mit seiner Lebensgefährtin Ricarda Hinz (34) einen Dokumentarfilm drehen - und sich jenen Objekten widmen, die er üblicherweise im Atelier entwirft: Deko-Elemente für Kino- und Fernsehfilme und für Konzerne.

Vor dem Vergnügen kommt die Vernichtung. Am Tag danach wandern die Skandale in den Schredder. "Der große Greifer kommt in die Halle, und alles wird zerquetscht." Wer wird diesmal zerlegt? "Die Amerikaner." Der Abschied von den Unikaten fällt nicht schwer: "Das ist wie beim Tischabräumen. Das Mahl war lecker, und weiter geht's."

Bildunterschrift:

Wenn sein Name fällt, steigt die Nervosität in den Staatskanzleien und Parteizentralen. Jacques Tilly provoziert mit Maschendraht, Papier und Kleister. Ein ausgedientes Straßenbahndepot dient ihm dabei als Werkstatt (oben). Fotos: Braun