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Jacques Tillys Antwort auf den Leserbrief von Pfarrer Moll

Düsseldorf, den 29.1.1996

Jacques Tilly
Karolingerstr. 94
40223 Düsseldorf

Leonhard Moll
Stiftsplatz 7
40213 Düsseldorf

Tja, Herr Moll,

mit großer Aufmerksamkeit habe ich Ihren Leserbrief an die WZ vom 18.1. gelesen. Mein erster Gedanke war: Der Mann ist völlig durchgedreht. Sätze wie "In die Gaskammern mit den Christen" und "Noch schreit das Blut zu uns von der Erde" konnte ich zuerst überhaupt nicht in Beziehung setzen zu dem vorliegenden Fall. Ich dachte, es handelt sich um die Reaktion eines Menschen, der sein zentrales Glaubenssymbol verletzt sieht und vor blinder Empörung nicht weiß, was er da tut. Inzwischen bin ich aber zu folgendem Schluss gekommen: So emotional, so maßlos, so irrational und bar jeder Verhältnismäßigkeit Ihr Schreiben auf den ersten Blick erscheint - Ihrem Brief liegt dennoch eine stringente Logik zugrunde. Sie stehen ja als Kirchenmann in uralten Traditionen, und diese lassen Sie wieder aufleben, ob nun bewusst oder unbewusst. Dank des Sieges der politischen Vernunft im Verlauf einer jahrhundertelangen Auseinandersetzung wurden der Kirche bekanntlich sämtliche Möglichkeiten genommen, Andersdenkende physisch zu vernichten. Das geschah nicht aus innerer Einsicht. Die Machtmittel wurden der Kirche in einem quälenden Kampf Stück für Stück von außen genommen, und man kann nur sagen, Gott sei Dank.

Das einzige, was Ihresgleichen heute in Situationen wie der vorliegenden noch bleibt, ist nicht mehr die physische, sondern die moralische Vernichtung. Und da haben Sie zu dem Alleräußersten gegriffen: Sie haben mich/uns als Rassisten und Neonazis gebrandmarkt, haben den Holocaust und die Gaskammern als moralische Waffe gegen uns ins Spiel gebracht und damit auf schäbigste Weise missbraucht. Sie haben damit zu dem größten rhetorischen Knüppel gegriffen, der überhaupt denkbar ist. Wem heute der Geist der faschistischen Judenmörder unterstellt werden kann, der ist moralisch bankrott, der hat verloren, das wissen Sie. Und das wollten Sie. Die physische Hinrichtung wird Ihnen glücklicherweise nicht mehr ermöglicht, aber die moralische Hinrichtung, die wollten Sie gründlich vollziehen. Und zwar mit spezifisch inquisitorischer Argumentation, die da lautet: Dem Andersdenkenden werden genau die Motive und Taten unterstellt, die in der jeweiligen gesellschaftlichen Situation die schlimmsten überhaupt möglichen sind. Jahrhundertelang haben Kleriker den echten oder vermeintlichen Kirchengegnern vor der Hinrichtung einen Standardkatalog von Untaten unterstellt, vom rituellen Kindermord bis zum Teufelspakt. Damit sollte diese Hinrichtung moralisch gerechtfertigt werden. Dieselbe Funktion hat nun Ihr völlig verantwortungsloser Holocaust-Knüppel gegen mich. Sie wollen vernichten, nicht überzeugen. In Ihrem gütigen, graumelierten Antlitz konnte ich die Gesichtszüge ihrer Vorgänger, der Inquisitoren, aufblitzen sehen. Für mich als Philosophiestudenten mit dem Schwerpunkt Religionsphilosophie ein anschauliches Beispiel lebendiger Kirchengeschichte.

Sie wollen mich in eine Ecke mit den antisemitischen Mördern stellen. Jeder andere darf mir so etwas unterstellen, aber nicht ein Funktionsträger und Sprecher einer Organisation, die den Anti-Judaismus überhaupt erst erfunden und im Verlauf ihrer bald 2000 Jahre dauernden Geschichte oft genug blutig praktiziert hat. Und damit Sie sehen, dass ICH kein skrupelloser Demagoge bin, sage ich hiermit auch: Der Holocaust des Dritten Reiches wurde von den nationalsozialistischen Christengegnern vollzogen und nicht von Christen. ICH kann differenzieren, auch zwischen religiösem und rassistischem Antisemitismus.

Aber: Sie haben mich ja vor laufenden Kameras konfrontiert mit dem in der Thora-Rolle eingewickelten Narren als Vergleich zu meinem Bildmotiv. Und dann muss man Sie schon darauf hinweisen: IHRE Organisation hat Thora-Rollen und Talmud verbrennen lassen, hat die Judenstigmatisierung durch äußere Zeichen eingeführt, hat schärfste Diskrimierungsgesetze verabschiedet. Der Autor des Matthäusevangeliums (Mt 27.25) lässt die Juden bei der Passion Christi rufen: "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder." Und erwähnt sei auch noch die unsägliche Stelle bei Paulus im 1. Thessalonicher 2.15, die den Kirchenvätern der Patristik bei ihren antisemitischen Hetzschriften als Vorlage diente und die den Anti-Judaismus zu einer eigenen Literaturgattung machten. 1900 Jahre klerikaler Anti-Judaismus wiegen schwerer als die letzten 50 Jahre.

Überhaupt haben Sie den Stil Ihres Paulus trefflich kopiert. Paulus ist bekanntlich ganz groß in der maßlosen und wüsten Beschimpfung Andersdenkender ("wer so handelt, verdient den Tod", Rom. 1.32), um im nächsten Moment von Liebe zu faseln. Die Werte, die SIE in Ihrem Leserbrief bemühen ("Versöhnung, Menschlichkeit und Verständigung"), die dienen Ihnen als Feigenblatt, um Ihre eigene maßlose Härte zu verdecken. (...) Christus scheint nur gelebt zu haben, um zu sterben, seine Botschaft und seine Ethik sind der Theologie und der Praxis Ihrer Kirche völlig gleichgültig. Darum wurde der ermordete, stumme Leichnam am Marterpfahl zum Symbol Ihrer Kirche, nicht der lebende Jesus der Bergpredigt. So wurde sein Tod und nicht sein Leben zum Zentrum der nun entstandenen paulinisch-heidnischen Mysterienreligion. Und so wurde das Kreuz zum Symbol einer Kirche, die sich für den lebenden Jesus nie interessiert hat und ihm so skrupellos zuwiderhandeln konnte.

Das ist meine Privatmeinung. Ich habe auch nie die geringste Absicht gehabt, derartige Dinge Öffentlich zu behandeln. Mein Karnevalsentwurf hat damit nichts zu tun. Er stellt keine Verhöhnung des Kreuzes dar, sondern nimmt die überzogene Reaktion der bayerischen Politiker auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aufs Korn, unter BENUTZUNG von Kreuzen. Das habe ich oft genug wiederholt. Es geht um Politik, nicht um Religion. Sie aber haben daraus einen Krieg zur Verteidigung Ihres Machtsymbols gemacht. Damit wurde jetzt einmal mehr der klerikalen Intoleranz, der Engstirnigkeit und der Zensur zum Sieg verholfen. Sie haben dazu beigetragen, dass aus meinen Vorurteilen gegenüber der Kirche nun fundierte Urteile geworden sind.

Vielen Dank dafür.

Ihr Jacques Tilly