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Laudatio

Rede von Herrn Prof. Dr. Wilhelm, stellvertretender Vorsitzender der Landschaftsversammlung Rheinland, zur Verleihung des Rheinlandtalers in der Kategorie „Kultur“ an Herrn Jacques Tilly, am 17. September 2020, 17 Uhr, im Rathaus der Stadt Düsseldorf.

    Herr Oberbürgermeister Geisel, lieber Thomas, liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Landschaftsversammlung Rheinland, Frau Karabaic, Herr Lohe, sehr geehrte Frau Hinz, meine sehr geehrten Damen und Herren, sehr geehrter Herr Tilly!

    Wer im Frühsommer dieses Jahres im Schloss Oberhausen war, konnte beim Besuch einer kleinen, aber pointierten Ausstellung Erinnerungen an so manche politische Diskussion der vergangenen gut 25 Jahre wachrufen: Angela Merkels Kopf im Gesäß der US-Präsidenten, „Klischee und Realität“ eines islamistischen Selbstmordattentäters, Donald Trump als wütendes Baby (das würde heute sicher drastischer ausfallen, vermute ich). All diese Bilder wurden zuvor in Form überlebensgroßer Pappmachefiguren durch die Düsseldorfer Innenstadt gefahren. Natürlich beim dortigen Rosenmontagszug – der den Ruf hat, der politischste in der ganzen Republik zu sein, was ich – als gebürtiger Kölner und durchaus Freund des Kölner Karnevals – bestätigen möchte.

    Dass dieser Ruf insgesamt gerechtfertigt ist, zeigte der diesjährige Rosenmontagszug wieder deutlich: der Skandal der Ministerpräsidentenwahl im Erfurter Landtag - gerade mal zwei Wochen vor Karneval - wurde in einer Darstellung Björn Höckes beim Hitlergruß, wobei FDP und CDU den gestreckten Arm stützen, ins Bild gesetzt. Eine der vielen politischen Unsäglichkeiten in Richtung Neonazis und Rechtsradikalismus in diesem Jahr, die durch die unselige Corona-Pandemie weitgehend vergessen wurden, da Politik, Wirtschaft und Medien fast nur noch ein Thema kennen.

    Die Bilder in Oberhausen, mehr noch aber die Szenen im Megaformat der Karnevalswagen, die sich im kollektiven Gedächtnis nicht nur der Menschen hier in der Region, sondern bis auf die internationale Ebene festsetzen, sind Werke von Jacques Tilly, dem „Wagenbauer“ des Düsseldorfer Rosenmontagszuges.
Allerdings ist Jacques Tilly viel mehr als ein „Wagenbauer“, er ist auch Kommunikationsdesigner, Bildhauer (er baut Kulissen für Film und Theater) und Illustrator, also ein Künstler mit großem Spektrum.

    Dabei geht er bei seinen großen Arbeiten nicht alleine, sondern mit einem Team von Künstlern im Atelier „Wagenhalle“ zu Werke. Ich spreche in diesem Zusammenhang explizit von „Kunst“, denn die Leistung der Übersetzung von politischen Diskursen, von Schlüsselszenen und Verantwortlichen in Prozessen der gesellschaftlichen Positionierung, dem Umgang mit gesellschaftspolitischen Werten und Haltungen in ein gestaltetes szenisches Bild, ist eine Kunstform und dabei nicht die leichteste. Sie ist in vielerlei Hinsicht spezifisch: vor allem, weil sie nicht in erster Linie in Museen und Galerien stattfindet, sondern auf der Straße, dann im Kontext eines Festes, mit und für die Menschen der Stadt und ihrer Besucher, spezifisch aber auch, weil sie – dabei ähnlich der Karikatur – tagesaktuell und mit Humor umgesetzt werden muss und schließlich, weil sie unmittelbare Wirkung erzielen will. Bevor ich darauf näher eingehe zunächst ein paar biografische Worte zu Jacques Tilly, den wir heute mit dem Rheinlandtaler des Landschaftsverbandes Rheinland auszeichnen.

    Er wurde 1963 in Düsseldorf geboren, studierte nach seinem Abitur an der Gesamthochschule Essen Kommunikationsdesign. Herr Tilly ist mit der Dokumentarfilmerin Ricarda Hinz verheiratet und lebt mit der Familie in Düsseldorf und zwar in einem Haus, das nun Heim der vierten Generation der Familie Tilly ist. Sein Vater Thomas Tilly, ein Fotograf, lebt mit in der Hausgemeinschaft, zu der zeitweise auch die Brüder Tillys oder Freunde gehören können. Eine offene Gemeinschaft mit Haltung, dazu später mehr. In einem Dokumentarfilm über Jacques Tilly erzählen Vater und Sohn von der Zumutung, die die vier Tillybrüder in den 1960er Jahren für die ziemlich bürgerliche Oberkassler Nachbarschaft war: lange Haare sowieso – hatten wir schließlich alle -, freche Antworten, nur deshalb, weil die konservative Bürgerschaft sie für frech hielt, in Wirklichkeit aber nur kritisch das verkrustete Establishment infrage stellten; dennoch, so wurde es empfunden, waren sie „irgendwie anders“, die Jungs aus diesem Künstlerhaushalt. Und im Grunde sind sie sich treu geblieben, die Tillys, denn mit dieser Haltung lebt die Familie bis heute, wobei das eigene Anderssein zu einer großen Skepsis gegenüber unreflektierten Traditionen, Hierarchien und Strukturen der Macht führte. So ist es kein Wunder, dass die katholische Kirche ebenso Thema der kritischen Auseinandersetzung im Werk Tillys ist, wie die Netzwerke von Wirtschaft und Politik.

    Interessant und der rheinischen Toleranz zu verdanken, ist dabei schon, dass für Jacques Tilly ausgerechnet der Karneval das Medium des Ausdrucks und der Vermittlung geworden ist, bilden doch gerade traditionelle Gesellschaften und Festformen oft das festgefahrene Establishment und eine Basis für das konservative Bürgertum und dessen sprichwörtlichen Klüngel. Zum Rheinischen Karneval gehört aber eben nicht nur der Ausstieg aus dem Alltag, die ekstatische und grenzüberschreitende Festerfahrung - zu diesem vielschichtigen Ritual gehört auch das Subversive, die Kritik, die Satire, das Lächerlichmachen der Mächtigen – nicht, wie in den letzten Jahren zunehmend insbesondere bei jungen Menschen zu beobachten, sinnentleert in der alkoholberauschten Ausfälligkeit, sondern kühl beobachtend, klar und klug und auch mutig. Etablierte Strukturen durchschauen, sie transparent machen, die Haltungen hinter bestimmten Begriffen, Zeichen und Handlungen aufzeigen, ihre wahren Beweggründe aufzudecken, also im besten Sinne des Wortes aufklärend zu wirken, das kann und sollte die karnevaleske Satire in all ihren Formen, eben auch durch Karnevalswagen.

    Lieber Herr Tilly, Sie wissen das und haben den Karneval als Ihre große Vermittlungsplattform gefunden. Mit Ihren politischen und gesellschaftskritischen Szenen geben Sie dem Karneval einen zentralen Teil seiner tatsächlichen Bedeutung. Es geht ja nicht um drei Tage Vollrausch vor der Fastenzeit, sondern um ein rituell gestaltetes Zeitfenster zum Ausstieg aus dem Alltag und einer Reflexion über diesen.

   Es geht um Gegenentwürfe, um Alternativen, um große Fragen: Wie wollen wir eigentlich gemeinsam leben? Welche Werte sind für unsere Gesellschaft wichtig – wenn Politiker von Freiheit und Gerechtigkeit reden, aber Parteispenden von Wirtschaftseliten nicht transparent machen wollen, wenn täglich Menschen auf der Flucht im Mittelmeer ertrinken und unsere Grenzen abgeschottet werden, wenn Freiheit und Gerechtigkeit nur für bestimmte Menschen gelten sollen, wenn Antisemitismus bis in die Mitte der Gesellschaft und in die Parlamente wieder schreckliche Akzeptanz findet, wenn Neonazis in der AfD eine politische Heimat finden, Jacques Tilly verpackt diese existentiellen Fragen unserer Gesellschaft in Bilder, die zum Lachen bringen, auch wenn das Lachen manchmal im Hals steckenbleiben muss.
    Zu hoch gegriffen? Zu viel Bedeutung für einen Zugwagen? Ich glaube nicht, denn die Menschen wollen auch beim Rosenmontagszug kein Gutzi-Gutzi- Geschmuse, sondern sie wollen mit der Nase auf die Probleme gestoßen werden – und bei Jacques Tilly werden sie das: sie brauchen nur hinzuschauen.

    So wie bei den wieder ikonisch gewordenen drei (!) Düsseldorfer Rosenmontagswagen 2015 zum Anschlag auf die französische Zeitschriftenredaktion Charlie Hebdo: Der Leser, der von einem islamistischen Terroristen geköpft wurde und ohne Kopf weitergeht: „Satire kann man nicht töten“, stand darunter. IS und Al-Quaida sind als armdrückende Skelette dargestellt, drei Imame hören, sehen und sagen nichts, denn „Religion hat nichts mit Terror zu tun.“

  Das Kölner Festkomitee entschied übrigens 2015 gegen eine deutlich kritische Darstellung dieser Vorgänge, ebenso war im Mainzer Karneval keine kritische Darstellung zum islamistischen Terror zu sehen. Feigheit vor dem Feind also: nicht so in Düsseldorf, und dieses Bekenntnis alleine hätte für Jacques Tilly den Rheinlandtaler gerechtfertigt. Dass der Karnevalszug in Braunschweig wegen einer Anschlagsdrohung abgesagt wurde, zeigt, wie angespannt die Situation war – und bis heute ist. Eine schreckliche Wiederholung des mörderischen Terrors im Namen einer Religion fand erst vor drei Tagen in Paris statt.

    Was darf Satire? Wie weit geht die Meinungs- und die Kunstfreiheit? Fragen, die zwar immer wieder neu gestellt und von der Gesellschaft ausgehandelt werden, aber stets auf das grundsätzliche Miteinander und das Menschenbild, das hinter einer gesellschaftlichen Form steht, verweisen. Und das ist bei uns ein demokratischer, freiheitlicher und nicht durch klerikale oder sonstige Schranken gehemmter Gesellschaftsvertrag. Da darf und muss es bei wirklich guter Satire auch mal quietschen bis es schmerzt.

    Sie, Herr Tilly, setzen sich dieser Diskussion immer wieder aus und beziehen Stellung. Angesichts von Drohungen gegen Menschen, die sich kritisch gegen rechts, gegen Rassismus und Menschenhass positionieren, keine einfache Haltung. Auch Sie haben schon Drohungen erhalten. Wieder aber antworten Sie mit Kunst: einer Ihrer Wagen mag als Sinnbild dienen. Sie zeigen den Zusammenhang von Sprache im öffentlichen und politischen Raum mit Taten: Wer verbal gegen Menschen hetzt, bereitet Taten vor und ist mitverantwortlich für „NSU – W. Lübke – Halle – Hanau – “ Das Laufband am einem Ihrer Wagen 2020 endete offen.

    Ihre Arbeit, Ihre Satire bleibt also wichtig für uns alle. Wenn Sie jedes Jahr aufs Neue im Rosenmontagszug den Finger in die Wunde legen, regen die Figuren und Szenen zum Nachdenken an, erzeugen Emotionen, und bewegen zur Selbstreflexion, hoffentlich auch bei denen, die hier öffentlich ein Stück weit lächerlich gemacht werden.

    Es freut mich auch persönlich sehr, dass Ihre Arbeit dazu beiträgt, dem im Rheinland besonders verankerten Fest Karneval seine subversive, gesellschaftskritische und politische Dimension zu erhalten. Diese Dimension ist eine kleine, aber bedeutungsvolle „Unbequemlichkeit“ aus der Geschichte dieses Rituals, die bei aktuellen Initiativen wie dem Karneval im Sonnenschein oder auch Diskussionen um Zuggestaltungen, die ausschließlich auf konfliktfreien Spaß und Konsum fokussiert sind, allzu häufig ins Hintertreffen gerät.

    Ein wenig Historisches noch, um die Bedeutung der Arbeit von Jacques Tilly besser einordnen zu können. Bilder und Texte mittelalterlichen Karnevalstreibens waren stets Symbole einer gravierenden Gesellschaftskritik. Karnevalisten noch im 19. Jahrhundert standen unter Beobachtung von preußischem Militär und Verwaltung. Büttenreden wurden zensiert und verboten. Während der Nazizeit versuchten nur sehr wenige Karnevalisten ihr Fest als Medium für Kritik am System zu nutzen. Der überwiegende Teil des organisierten Karnevals wurde rasch und widerstandslos gleichgeschaltet, das Fest sollte klar der NS-Ideologie dienen.

    Anhand der Festformen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ließe sich schließlich eine Geschichte des gesellschaftspolitischen Diskurses im Karneval unserer Bundesrepublik schreiben. Sie, geehrter Herr Tilly, erhielten in diesem Buch wohl ein umfangreiches Kapitel. Die Bedeutung Ihrer Arbeit für den Karneval und damit für das kulturelle Erbe unserer Region und für das Zusammenleben unserer Gesellschaft möchten wir heute auszeichnen mit dem Rheinlandtaler.

    Seit mehr als 40 Jahren ehrt der Landschaftsverband Rheinland als Rechtsnachfolger der Preußischen Provinzialverwaltung mit dem Rheinlandtaler Menschen, die sich in vielfältiger Weise um das Rheinland als Kulturregion verdient gemacht haben. Das ist eine lange Zeit, in der wir versuchen, mit unserer Auszeichnung vor allem ehrenamtliches, bürgerschaftliches und gesellschaftskritisches Engagement zu fordern. Es geht uns um Anerkennung, Dank und Wertschätzung für persönlichen Einsatz für die Kultur im Rheinland. Das mit dem Rheinlandtaler ausgezeichnete Engagement für unsere Region ist so vielfältig wie das Rheinland selbst, es reicht von lokaler Geschichts- und Sprachforschung über aktive Vereins- und Traditionspflege, Initiativen für besondere Kulturereignisse oder Denkmale bis zu den so wichtigen Vermittlern von regionaler Kultur im Alltag, die für das friedliche Zusammenleben, für Integration und kulturelle Vielfalt bedeutsam sind.

    Heute nehmen wir Sie, Herr Tilly, in den Kreis der Rheinlandtalerträgerinnen und -träger auf. Es ist mir eine besondere Ehre und Freude, Ihnen im Namen des Landschaftsverbandes Rheinland für Ihr jahrzehntelanges Engagement und ihre erfolgreiche Arbeit zu danken. Bitte fahren Sie fort, unerschrocken und im Wortsinne auf der Straße für eine offene, tolerante und freie Gesellschaft einzutreten.