Pressespiegel2008FAZ-Hochschulanzeiger, 21.1.2008

Wie wird man eigentlich Karnevalswagenbauer, Herr Tilly?

FAZ Hochschulanzeiger, 21.1.2008, von Mathias Irle

Journalist, Werber oder freier Künstler

Weil kein Job exakt zu seinen Vorstellungen passte, schuf sich der Düsseldorfer Jacques Tilly, Jahrgang 63, sein eigenes Berufsbild. Heute ist der Kommunikationsdesigner der berühmteste Karnevalswagenbauer Europas. Sein Arbeitsplatz: ein großes Holzgerüst in einer gigantischen Wagenbauhalle am Rande des Zentrums von Düsseldorf. Hier entstehen die Figuren, die während der Faschingsumzüge von einem Millionenpublikum bestaunt werden.

Februar 2003. Kurz vor dem Ausbruch des zweiten Golfkriegs fliegt Angela Merkel in die USA zu Präsident Bush und versichert ihm ihre Solidarität.

Obwohl es bereits wenige Tage vor Beginn des Rosenmontagszugs war, wollte ich diesen Besuch in Form eines Wagens thematisieren. Ich machte eine Skizze, ging damit zum Düsseldorfer Karnevalskomitee, dem Auftraggeber für die politischen Wagen. "Dat is gut so, dat is frech genug", war deren Reaktion. Der Entwurf zeigte Angela Merkel, wie sie aus dem Hintern von Bush in Uncle-Sam-Verkleidung kriecht, dabei schwenkt sie Amerikafahnen. Wir fingen umgehend an, den Wagen zu bauen; die Farbe war gerade trocken, als er auf die Straße kam. Etliche Zeitungen druckten das Bild vom Wagen später ab. Für mich eine der wichtigsten Bestätigungen: Ich bin meinem Anspruch gerecht geworden. Ich habe das, was an Themen in der Luft liegt, so auf den Punkt gebracht, dass es jeder versteht - selbst wenn er schon ein paar Altbiere getrunken hat.

Als Jugendlicher wollte ich Künstler oder Journalist werden. Nach einigen Besuchen als Jugendlicher an der Kunstakademie in Düsseldorf wurde mir jedoch klar: Kunst ohne äußeren Auftrag zu machen, dafür fehlte mir der innere Drang. Den Journalismus hingegen redete man mir am Berufsinformationszentrum madig: Schlechte Bezahlung, Kaffeesucht, den vierten Herzinfarkt mit Mitte fünfzig.

Die Wagenbauhalle wird bewacht. Zu oft ist es in der Vergangenheit passiert, dass Politiker Wind von den Motiven bekamen und per richterliche Verfügung deren Auftritt auf dem Umzug kurzfristig verhinderten.

1984 begann ich mein Studium im Fach Kommunikationsdesign an der Folkwanghochschule in Essen. Kurz vorher hatte ich meine erste Berührung mit dem Karnevalswagenbau: Ein Freund, der schon lange in der Wagenbauhalle jobbte, bat mich um Unterstützung beim Bau eines Wagens mit politischem Motiv. Für mich ein Gag und eine schöne Art, Geld zu verdienen. Wir bauten nach meiner Skizze Helmut Kohl, wie er faul im Sonnenstuhl liegt und eine Cola schlürft, während die Wirtschaftskrise in Gestalt einer Krake nach ihm greift. Diese Freiheit, die man in der Wagenbauhalle hatte, diese Symbiose von Kunst und Politik! Ich war sofort von der Arbeit begeistert.

Sollte ich nach dem Studium dennoch als fester Mitarbeiter in einer Werbeagentur beginnen? Weil ich nicht drei Wochen an Entwürfen arbeiten wollte, die ein Kunde später in den Müll wirft, entschied ich mich 1994 trotz guter Angebote gegen diese Sicherheit. Die Hälfte des Jahres baute ich fortan Karnevalswagen, nebenbei jobbte ich als freier Illustrator in Werbeagenturen.

Die Aufträge für die Wagen kommen vom Düsseldorfer Karnevalskomitee, von lokalen Karnevalsvereinen und manchmal von Privatleuten. Ab Weihnachten startet die Hochsaison, in der auch die Wagen mit den politischen Motiven gebaut werden müssen. Um auf Ideen zu kommen, schließe ich mich immer erst einmal drei Tage mit einem Haufen Zeitschriften vom Spiegel bis zur Bild-Zeitung in meinem Büro ein. Ein Standardrezept für einen erfolgreichen Wagen gibt es dabei nicht. Doch es gibt Voraussetzungen, die er erfüllen muss: Das Thema muss umstritten und relevant sein. Und: Man sollte bestimmte Gags, wie nackte Politiker zu zeigen, nicht zu häufig wiederholen.

Ich und meine Kollegen bauen die Figuren anschließend per Leichtbauweise aus einem Holzgerüst und Blumenpapier. Die Wagenbauhalle wird ab diesem Zeitraum seit einigen Jahren bewacht. Zu oft ist es in der Vergangenheit passiert, dass Politiker Wind von den Motiven bekamen und per richterliche Verfügung deren Auftritt auf dem Umzug kurzfristig verhinderten.

Am Tag des Zugs stehe ich immer erhöht an einer Stelle an der Düsseldorfer Kö, weil ich dort den besten Winkel habe, um die Wagen zu fotografieren. Schließlich sind sie alle nur ein Mal im Einsatz, bevor sie nach Karneval demontiert werden. In den Tagen danach studiere ich die gesamte Presse zur Karnevalszeit und schaue mir die Fernsehübertragungen auf Video an. Wird ein Wagen nicht wahrgenommen beziehungsweise von den Kommentatoren nicht erwähnt, war er nicht gut. Anhand der Reaktionen kann ich studieren, was ich noch verbessern muss. Ein besonders schönes Erfolgserlebnis hatte ich vor kurzem dank der Bildersuchfunktion auf Google: Als ich dort den Begriff "Kardinal Meissner" eingegeben habe, kam an siebter Stelle das Bild von meinem Wagen!

Bildmaterial: Götz Schleser